Kassandra lebt

Du, deines Vaters geliebte Tochter,
bedacht mit den Gaben der Klugheit, der Anmut, der Schönheit,
gekleidet in Silber und Gold,
wandelnd in den Gärten des Glücks.
Geliebt von den Menschen, den  Göttern.

Du – war es Dein Hochmut –
ließest Apoll selbst, seufzend vor der Tür deines Herzens stehen.
Schenkt er dir nicht,
was keinem Menschen gegeben,
die Gabe des Sehens?
War es dein stolz verschlossenes Herz,
liebtest du einen anderen,
oder nur dich?
Dich selbst in der Fülle der Gaben?
Dachtest du denn kein Mensch und kein Gott könnte dir zürnen?

Jetzt nach all diesen Schrecken, den furchtbaren Greueln,
geschändet, geschlagen, erniedrigt,
dem Spott und der Willkür der Feinde gegeben,
schützt nur mehr die Blindheit,
dich vor dem Spiegelbild dieses Grauens.
Tot ist dein Herz, begraben in eisigen Kellern,
wie Holz, das zu schwarzer Asche verbrannt.
Verwirrt nur sprechen noch deine Lippen
Von Dingen, die du siehst in den Räumen der Zukunft.
Von zerschlagenen Leibern im Schatten geronnenen Blutes,
dem Rost ihrer Waffen in den faulenden Sümpfen,
dem Geschrei und dem zuckenden Tanz der Verrückten.

Da –hat ein Gott, aus der Ferne, dir den Wächter der Glut gesandt?
Fühlst du unter Asche und schrecklichem Traum
das sanfte Rot noch nicht erloschenen Lebens?
Spürst du die heiße Träne im Aug?
Siehst du nun nicht nur Bilder,
siehst du und hörst du das Leid und den Schmerz?
brennt dich ihr Schmerz nun auch in den eigenen Gliedern?

 

Warnend und klagend willst du erbarmend jetzt den Geknechteten helfen.
Doch alle die, die jetzt auf der Straße des Glücks, der Zufriedenheit wandeln,
spotten nur deiner Rede.

Tun, was sie glauben müssen zu tun.
Schreiend, mit brüchiger krächzender Stimme,
spricht dein steinerner Mund
Verlasset den Weg, der euch ins Verderbend führt!

Vergebens.
Hohl tönt aus den Masken des Chores:
der blecherne Klang ihres Lieds.
Verloren.
Verloren die Welten der Toten
Versunken wie Steine am Grund des unendlichen Meeres.

Aber wieder, auf dem Weg durch die Zeiten
Rennen die Menschen blind dem Wahn und dem Leid entgegen
die Hand vor den Augen nicht sehend.
Rennen blind ins Verderben!

Da- über Kassandras uraltem, nicht sterbendem Leib
Fliegt ein Phönix in flügelschlagenden Kreisen
Nun löst sich aus grün - schimmerndem Gold eine Feder
Und senkt sich leis auf der Seherin Hand.
Und sie schreibt in die grauen Himmel der Städte,
in die schwarzen Wolken über den Schloten
und in die Herzen der Menschen:
es ist Zeit, erwachet, kehrt um!
Und die Kinder, die Mütter, die Alten blicken empor.

Sie sehen und hören die Zeichen.
Sie sehen und hören die Zeichen
…….. und hören die Zeichen!