Ivan Illich – konvival

Das Thema „ Selbstbegrenzung“ „ scheint mir auch  für „ Was ist konvival – also für ein gutes Zusammenleben geeignet -  der wichtigste Gedanke zu sein, der uns Menschen befähigen kann, überhaupt in Würde in Zukunft zu leben. Wir stehen jetzt wieder an einem Kreuzungspunkt der Menschheitsgeschichte. Hier möchte ich an die älteste Aufforderung zur Selbstbegrenzung, also an den Bericht über den Turmbau zu Babel erinnern.

So wie der Arzt am Beginn einer Behandlung zuerst eine Anamnese, eine Untersuchung und dann eine Diagnose braucht, um eine richtige Behandlung einzuleiten, so müssen wir heute die Herausforderung annehmen, die sich in der ungeheuer schnell verändernden Lage der Menschen in ihrer Umwelt zeigt, und ihre Auswirkungen analysieren. Aber diese Analyse müssen wir auch immer wieder korrigieren. Was gestern noch die „ richtige“, d.h. z.B. die antiautoritäre Erziehung war, ist jetzt straffen Erziehungsvorstellungen gewichen. Das, was uns gestern die neuesten technischen Entwicklungen bescherten, ist heute auf rostenden Müllbergen zu finden.

Das beängstigend, schwindelerregend, sich immer mehr beschleunigende Tempo in der Entwicklung der diversen technischen, biologischen und medizinischen Möglichkeiten, also, alles was machbar ist, zu machen, braucht jetzt, spätestens jetzt, unsere, d.h. jedermanns Einsicht zur Selbstbegrenzug.
Der Begriff „Selbstbegrenzung“ vermittelt das Gefühl sich selbstbestimmt und freiwillig  für  die Zurücknahme eigener Wünsche und Möglichkeiten zu entscheiden.   Im Gegensatz zu einem von oben verordneten „sparen müssen“. Selbstbegrenzung hat übergreifend mit vielen Themenbereichen zu tun. Dürenmatt hat mit dem Schauspiel „ Die Physiker“  die Verantwortung der Wissenschaftler erkannt. Es bedeutet nach der Erfahrung mit  dem Abwurf der Atombomben, mit Tschernobil und Fokushima, mit Konsumwahn und Medienmanipulation,  auch im kleinen Bereich die eigenen Grenzen, und die des anderen zu respektieren.

Wir dürfen den Raubbau und die Ausbeutung bezüglich der  begrenzten
Ressourcen der Natur, die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums und die Gier der Menschheit nach immer MEHR nicht beschönigen. Vor allem aber müssen wir den Balken im eigenen Auge sehen. Wissen wir nicht von uns selbst, dass wir rechtfertigend Gründe finden und glauben, dass für uns speziell
Ausnahmen erlaubt sind? Aber kann es denn tatsächlich einen Menschen geben, der u.a. an ein grenzenloses Wachstum der Wirtschaft glaubt? Der engagiert für die ökonomische Notwendigkeit einer hemmungslos expandierenden Rüstungsindustrie als wichtigste Einnahmequelle zur Sicherung unseres Lebensstandards eintritt? Müssen wir an die Notwendigkeit von Kriegen glauben, damit die Welt friedlicher wird? Sollen wir wirklich glauben, dass die Entsorgung des Giftmülls chemischer und radioaktiver Stoffe ein technisches Kinderspiel ist?

Ich habe ein Bild von Richard Ölze vor Augen: Da stehen im Vordergrund Männer in Hut und Mantel mit dem Rücken zum Betrachter. Sie alle schauen offensichtlich gebannt auf drohend geballte, düster grau-schwarze Wolken, die im Hintergrund am Himmel heraufziehen, wie auf  die Prophezeiung eines
nahen Unheils.
Warten wir jetzt auf ein Unheil, das von uns Menschen selbst hervorgerufenen wird? An unseren Turmbau zu Babel? Fürchten wir uns vor der Hybris der
Wissenschaften? Denken wir an Huxlys „ Schöne neue Welt“, an  „Affe und Wesen“ oder an H. G. Wells großartiges Zukunftszenario „Die Riesen kommen“? 1910 geschrieben führt er uns eine Situation vor Augen welche Gefahren uns durch widernatürliche biologische und genetische Experimente entstehen.
Das Bild vom Menschen des 20sten und 21sten Jahrhunderts zeigt ihn als bildungshungrigen Menschen und brillianten  Wissenschaftler mit den Emotionen eines Steinzeitmenschen. Selbst Einstein plädierte, bevor er „ Mein Weltbild“  schrieb, für den Abwurf  von Atombomben auf Deutschland und Österreich.

Für ein gutes Zusammenleben gilt, dass wir uns die Ängste, die wir für uns selbst und unsere Kinder, unsere Enkel und Urenkel haben, klar vor Augen führen. Es ist das richtige Gefühl Angst zu haben! Verdrängen wir es nicht in
die hinterste Lade des Unterbewusstseins. So wie Schmerz ein notwendiges Alarmzeichen ist, so ist Angst auch in den zunehmenden Symptomen von Panik Attacken, Depressionen und Psychosen zu finden. Aber die Ängste in den Köpfen und Herzen werden von cleveren Werbestrategen vernebelt und zugemüllt und so zum Schweigen gebracht. Mit den unermesslichen Möglichkeiten  des KAUFENS und KONSUMIERENS trifft uns grausam die Keule mit der wir manipuliert, d.h. gedemütigt und unserer menschlichen Würde beraubt werden.  Dahinter stehen die „schönen“ Schlagworte Energie, Produktion, Bildung, Leistung und Information. Aus dem damit verbundenen Informationsmüll müssen wir die, für uns wesentlichen Teile herausfiltern, die das wahre Bild unserer Welt und einer zukünftigen Welt zeigen.

„ Einander Kind sein“, wie die Schriftstellerin Barbara Frischmut formuliert, ist die Aufforderung für einander liebevoll zu sorgen. Aber eben nicht nur für unseren Nächsten, sondern auch  den weit entfernten Menschen, der uns durch die „kleiner gewordene Erde“ näher gerückt ist. Das legt uns die Verantwortung nicht nur der Menschheit, sondern auch der Umwelt und der Natur gegenüber nahe. Wir müssen den Gefahren, die durch eine entgleiste Weltwirtschaft und eine technokratische Hybris schon entstanden ist, und sich immer mehr wild wuchernd ausbreitet, ins Auge sehen. Gefahren für die Welt, in der ein entmündigter Mensch dann gezwungen ist zu leben. Als “ Nutzmensch“ für eine handvoll verantwortungslos agierender Wirtschftslobbys, die die Welt beherrschen. Erich Fromm hat die Persönlichkeitsveränderung dieser Menschen, die hinter den gigantischen Wirtschaftsimperien die Fäden ziehen, in den Aufsätzen zur „ Nekrophilie“ präzise beschrieben.
Ich glaube nicht, dass es viel nützen wird, wenn wir Umweltsündern, Kriegshetzern und Rüstungsmanagern Licht und Liebe schicken. Das kann zwar nicht schaden aber die absolute Notwendigkeit wachsam zu sein ist das Wichtigste. Das menschliche Aggressionspotential (in Verbindung mit kalkulierten Wirtschaftsinteressen, Aufbauarbeit nach Kriegen) wird mit zunehmend effizienteren  Waffen für die Menschheit immer bedrohlicher, und ist auch eines der ganz großen Probleme.
So erkannte Freud: „Es wird dem Menschen offenbar nicht leicht, auf die Befriedigung dieser ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie fühlen sich nicht wohl dabei. Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, dass er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht gering zu schätzen. Es ist immer möglich eine größere Menge Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur ANDERE für die Äußerung der Aggression übrig bleiben“.
Im Wissen um diese in uns wirksame  Eigenschaft ist ständige Wachsamkeit notwendig! Wir sind als Menschen eben auch in unserer tief  verwurzelten Prägung nur „ höhere Primaten“, und als solche immer in Gefahr, auf dieses Instinktverhalten zurück geworfen zu werden.  Sogenannte Toleranz, die aber nur auf Bequemlichkeit, träger Gleichgültigkeit und Eitelkeit beruht, darf nicht mit echter Toleranz, die auch Grenzen kennt, verwechselt werden.
Auch hier spricht das Wort „ Selbstbegrenzung“ für sich: die eigenen Grenzen und die des Anderen zu respektieren.
Schon spielen wir mit Zukunftsszenarien, mit Ideen, die uns zeigen wie wir die Gefahren  dieses Aggressionspotentials in den Griff bekommen können. Denken wir an die in den Hinterzimmern der Chemielabors entwickelten Psychopharmaka die in Luft und Wasser eingesetzt, zur Beeinflussung von Menschen missbraucht werden können und vielleicht schon missbraucht wurden. Möglichkeiten, die auch in den Hinterköpfen mancher Politiker  gespeichert sind. Sie sind kein Geheimnis mehr. ( TV Wissenschaftssendung Scobel, Mai 2012 ).  Oder z.B. Zukunftsideen wie: Mord als offizieller, gesetzlich geregelter Bestandteil des gesellschaftlichen Miteinanders zur Regulierung der menschlichen Aggression. (Robert Sheckley „ Das 7. Opfer“, verfilmt als „Das 10. Opfer“.) Utopische Absurditäten? Vielleicht, aber schon angedacht. Und alles Gedachte drängt zur Verwirklichung. Noch aber haben wir die Freiheit selbst zu denken, zu verweigern und zu tun. Zu tun, indem wir bewusst wahrnehmen. Nur allzu gerne schieben wir die Schuld am Zustand der Welt auf  Materialismus, Kapitalismus, Kolonialismus, auf Ideologien, Religionen, Atheismus, Drogen und den Verfall der Werte. Aber das alles finden  wir in uns selbst. Wir wollen den Balken im eigenen Auge nicht sehen. Wir  brauchen Aufklärung, Analysen und vor allem Gesetze, denn sie sind das Sicherheitsnetz für die Gesellschaft!
Ivan Illich beschreibt in der „ Entschulung der Gesellschaft“ die Schule als wirksamstes Instrument zur Vorbereitung der Kinder auf ein nicht mehr selbstbestimmtes, entfremdetes Leben unter Leistung und Konsumdruck. Für ein gelungenes  Schulprojekt stelle ich mir den Zusatzunterricht „ Welche Strategien können mich beeinflussen, wie lasse ich mich nicht manipulieren “ vor. Schon ab dem Kindergarten wäre als erzieherische Anregung für ein bewusstseinserweiterndes Gewissen das Motto „ was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, auch in Bezug auf Umwelt und Natur notwendig. Die Auffassungsgabe  bezüglich ethischer Grundsätze und das empathische Verständnis von Kindern darf man nicht unterschätzen sondern muss genützt werden.

Die wesentlichen Fragen, die wir uns stellen müssen: Wie weit darf Technik, Medizin und Pharmakologie den Menschen verändern? Wie soll das Menschenbild aussehen das wir uns wünschen? Wohin hat die Evolution den Menschen bis heute geführt? Wo stehen wir jetzt und wo sollten wir stehen?
In welche Richtung  wird sich der Zeitgeist verändern? Canetti und Tucholsky haben u.a. über den Willen zur Veränderung geschrieben. Das deckt sich mit gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie auch im 19. und letzten Jahrhundert stattgefunden haben. Gewohnte Tendenzen, deren man  überdrüssig geworden ist, durch andere, neue, interessante – noch nicht gelebte - zu ersetzen. Der Wandel einer, von vom Individium geprägten Gesellschaft, pendelt zwei oder drei Generationen später zu einer vom  Kollektiv geprägten. Das kann Revolution oder Krieg bedeuten, der „schlafende Zorn“ erwacht. ( Wotan sattelt wieder Sleipnir).
Wenn wir also nicht selbst  die Steuerung der Welt, in der wir leben wollen, in die Hand nehmen,  werden diese zyklischen Veränderungen sowohl von Ideologien, als auch von der Politik, einzelnen Politikern, aber auch, und darin sehe ich das hauptsächliche Problem, von den manipulativen Praktiken der Wirtschaftslobbys  genützt, die heute die Herrscher der Welt sind Die Marktanalysten, die im Hintergrund die Fäden ziehen, arbeiten heute, so wie vor Jahren kalkulierend in den wenig stabilen Regionen, um sie zu explosiven Krisenherden zu machen. So wurden schon am Beginn des Jugoslawienkrieges Waffen in Carepaketen versteckt und auch u.a. über nichtsahnende Jugendgruppen in die kritischen Regionen gebracht. Die diesbezüglich  schlimmste Gefahr kommt da durch den Einfluss der Medien, gesteuert durch die vorangegangene „Marktanalyse“ der Rüstungsindustrie – damit auch gleich Waffen zur Hand sind, wenn die Propaganda vom Denken der Menschen Besitz ergriffen hat. Selbstbegrenzung bedeutet hier, sich nicht fremdbestimmt, freudig  hemmungslos  einer Gruppendynamik anzuschließen.

Wir haben die Zukunft selbst in der Hand. Wir sind keine hilflosen Marionetten. Wir wollen aber auch keine empörten „ Wutbürger“ sein, wir wollen sinnvoll
überlegend, gestaltend an einer positiven Zukunft mitwirken, und uns nicht jede Hoffnung mit dem faulen  Argument „ da können wir ja doch nichts machen“
rauben lassen. Denn ohne diese Hoffnung würden wir die Verantwortung für uns und kommenden Generationen anderen überlassen. „ Denn dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann“, sagt Nietzsche.


*  Ivan Illich „ Selbstbegrenzung“  ( Tools for Conviviality,   1973/ 1980)